Ethisches Check-up für Public-Health-Massnahmen
Jan. 2013Ethik und Public Health
Public-Health-Ethik. Trotz ihrer überindividuellen Perspektive müssen Public-Health-Akteure ihr Augenmerk immer auch auf die einzelnen Menschen richten. Denn was der Gesellschaft nützt, kann dem Individuum schaden. Gesundheitsschädliches Verhalten wiederum kann zu volkswirtschaftlichen Mehrbelastungen führen, welche die Gesellschaft mitzutragen hat. Doch an welchen Grundsätzen soll man sich beim Abwägen zwischen Schaden und Nutzen, Allgemein- und Individualwohl orientieren? Die Public-Health-Ethik muss hier Antworten geben.
Public-Health-Interventionen zielen auf das Wohlergehen der Gesamtgesellschaft oder von Gruppen ab, treffen aber letztlich auf den einzelnen Menschen und können mit dessen Entscheidungsfreiheit kollidieren. Public Health befindet sich damit ständig im Spannungsfeld zwischen Allgemeinwohl und Individualwohl. Entscheidungen in diesem Bereich bedürfen einer sorgfältigen Abwägung zwischen Nutzen auf gesellschaftlicher Ebene und dem möglichen Schaden auf individueller Ebene. Daniel Strech und Georg Marckmann stellen in ihrem Buch «Public Health Ethik» sechs Kriterien vor, die zur ethischen Beurteilung von Gesundheitsförderungs- und Präventionsmassnahmen herangezogen werden können. Die Kriterien im Überblick:
1. Nutzenpotenzial für die Zielpopulation
Ethische Prinzipien der Nutzenmaximierung und des Wohltuns
Public-Health-Massnahmen sollten – unter Achtung des Respekts der Autonomie – den grösstmöglichen gesundheitlichen Nutzen für eine Gesellschaft erbringen. Jede ethische Bewertung einer Präventionsintervention muss deshalb mit einer Beurteilung des Nutzenpotenzials beginnen. Vor der Lancierung einer Massnahme muss durch wissenschaftliche Studien hinreichend erwiesen sein, dass sie aller Wahrscheinlichkeit nach Wirkung zeigt, und zwar in einem angemessen hohen Ausmass. Bei Früherkennungsmassnahmen ist insbesondere wichtig, dass diese Massnahmen nicht dazu führen, die Krankheitsphase zu verlängern.
2. Schadenspotenzial für die Teilnehmenden
Ethische Prinzipien des Nichtschadens und des Wohltuns
Public-Health-Interventionen gehen in der Regel mit negativen Wirkungen einher, die nicht vermieden werden können. Falsch-positive Testergebnisse z.B. bei der Krebsfrüherkennung können zum Beispiel unnötige Therapien nach sich ziehen, oder Aufklärungskampagnen können zu Stigmatisierungen der betroffenen Gruppe führen (z.B. übergewichtige Kinder). Es gilt, den Nutzen und den potenziellen Schaden einander gegenüberzustellen und wissenschaftlich zu belegen.
3. Selbstbestimmungsrecht
Ethische Prinzipien des Respekts der Autonomie und des Wohltuns
In liberalen Gesellschaften hat die Autonomie eines Individuums in den letzten Jahren einen sehr hohen Stellenwert erhalten. Demnach stehen die Gesundheit und der Schutz vor Krankheiten grundsätzlich in der Verantwortung des Einzelnen. Von diesem Prinzip der Autonomie lassen sich für Public-Health-Akteure zwei ethische Kriterien ableiten: Zum einen sollten Public-Health-Interventionen die Gesundheitskompetenz der Individuen stärken, damit diese ihre gesundheitliche Eigenverantwortung auch angemessen wahrnehmen können. Gesundheitskompetenz ist die Fähigkeit, eine gesundheitliche Entscheidung aufgrund von allen relevanten und erhältlichen Informationen zu treffen. Zum anderen sollte die Teilnahme an einer Intervention wenn immer möglich freiwillig sein. In manchen Fällen ist eine Einschränkung der Entscheidungsfreiheit nicht zu vermeiden, zum Beispiel bei Quarantänemassnahmen. Grundsätzlich gilt das Prinzip der Verhältnismässigkeit: Bevor man zu gesetzlichen Mitteln greift, sollten alle weniger restriktiven Massnahmen ausgeschöpft worden sein (vgl. Kasten «Interventionsleiter»).
4. Gerechtigkeit
Ethisches Prinzip der Gerechtigkeit
Alle Industrieländer verzeichnen derzeit eine Zunahme der sozialen Ungleichheiten. Damit besteht die Gefahr, dass auch die gesundheitliche Ungleichheit zunehmen wird. Auch in der Schweiz sterben Personen mit niedriger Bildung, tieferer beruflicher Stellung oder geringem Einkommen deutlich früher als die übrige Bevölkerung. Zudem leiden sie in ihrem kürzeren Leben häufiger an gesundheitlichen Beeinträchtigungen. Ein zentrales Kriterium bei der Bewertung von Public-Health-Massnahmen ist deshalb ihr Beitrag zur Reduktion von gesundheitlicher Ungleichheit. Jeder Mensch soll die gleichen Chancen und Ressourcen erhalten, sein Gesundheitspotenzial auszuschöpfen. Massnahmen, die auf gesundheitlich benachteiligte Gruppen zugeschnitten sind, sind diesbezüglich besonders wertvoll. Doch auch hier gilt es, die Schadenspotenziale wie Stigmatisierung zu berücksichtigen. Das Prinzip der Gerechtigkeit bedeutet weiter, dass eine Massnahme für alle Menschen, die von ihr profitieren können, zugänglich sein muss. Finanzielle, geografische, sprachliche oder kulturelle Hindernisse sollten so weit wie möglich abgebaut werden.
5. Effizienz
Ethische Prinzipien der Nutzenmaximierung und der Gerechtigkeit
Angesichts der öffentlichen Ressourcen muss sorgfältig abgeklärt werden, wie effizient eine Public-Health-Massnahme ist. Dabei soll das sogenannte inkrementelle Kosten-Nutzen-Verhältnis eingeschätzt werden. Das ist das Verhältnis zwischen den Zusatzkosten und dem Zusatznutzen im Vergleich zu alternativen Massnahmen – sofern vorhanden. Es geht also auch hier letztlich um Verhältnismässigkeit und darum, abzuklären, ob ein bestimmtes Ziel nicht auch mit weniger Aufwand, weniger restriktiven Massnahmen und weniger Schadenspotenzial erreicht werden kann (vgl. Kasten «Interventionsleiter»).
6. Legitimität
Ethische Prinzipien der Gerechtigkeit und des Respekts der Autonomie
Bei komplexen moralischen Abwägungen gibt es selten eine einzige, abschliessende Antwort. Da es kein ethisches «Superprinzip» und keine Gewichtungsvorgaben gibt, sind ethische Meinungsverschiedenheiten bei Public-Health-Fragen schwer aufzulösen. In solchen Fällen gilt es, die Legitimität nicht nur der Entscheidungsinstanz, sondern auch des Entscheidungsprozesses zu beurteilen. Die Kriterien für einen legitimen und fairen Entscheidungsprozess sind Transparenz der normativen und empirischen Grundlagen, Konsistenz in den einzelnen Entscheidungen, Rationalität der Begründungen, Partizipation der betroffenen Gruppen, Minimierung von Interessenskonflikten, Offenheit, bei veränderten Bedingungen eine Entscheidung revidieren zu können, und eine staatliche oder freiwillige Regulierung, die sicherstellt, dass diese Grundsätze auch eingehalten werden. Im politischen Diskurs kommen erfahrungsgemäss weitere Kriterien ins Spiel, welche den marktwirtschaftlichen oder den föderalistischen Nutzen und Schaden betreffen.
Was soll und was muss der Staat?
Es ist unbestritten, dass Gesundheit nicht nur in der individuellen, sondern auch in der staatlichen Verantwortung liegt, analog zur sozialen Sicherheit oder zur Bildung. Für alle diese Bereiche gilt es, Ungleichheiten abzubauen. Ein Ausgleich kann nur von unten nach oben erfolgen, also in der Besserstellung der Benachteiligten, ohne die Bessergestellten schlechter zu stellen. Wie weit dieser Ausgleich eine gesellschaftliche Verpflichtung ist und der Staat und die Zivilgesellschaft dafür über die Eigenverantwortlichkeit hinaus zur Verantwortung gezogen werden können, ist Gegenstand der nächsten Generation von Public-Health-Massnahmen.
Buch: Strech Daniel, Marckmann Georg (Hg). Public Health Ethik. Lit Verlag, 2010: Berlin.
Die Interventionsleiter
Die Interventionsleiter ist ein Modell, das der Wahl von adäquaten, verhältnismässigen Präventions- oder Gesundheitsförderungsmassnahmen dient: Erst wenn eine Intervention keine Wirkung (mehr) zeigt, soll eine Massnahme der nächsthöheren Stufe ergriffen werden. Dabei gilt: Je höher die Stufe, desto mehr Evidenz muss erbracht werden, dass die geplante Massnahme zweckmässig, wirksam, notwendig und den Rechtsunterworfenen zumutbar ist.
Praktisch alle gesetzlichen Massnahmen im Public-Health-Bereich haben den Schutz vor gesundheitsgefährdenden Gegenständen und Dritten (Fremdgefährdung) zum Ziel. Das Betäubungsmittelgesetz ist eines der wenigen Regelwerke auf Bundesebene, das Konsumverbote enthält und damit urteilsfähige Erwachsene vor einer Selbstgefährdung schützen will.
Kontakt
Regula Ricka, Gesundheitspolitik, regula.ricka@bag.admin.ch